Straßeninszenierung von Katja Baumgarten
5. bis 8. Mai 1995
13 Projektionen
Stunde Null
Ein Medien-Kunst-Projekt des Fachbereichs Kunst und Design der Fachhochschule Hannover. Ab 5. Mai 1995 fanden an 17 ausgewählten öffentlichen Orten in Hannover künstlerische Ereignisse statt, die auf die epochialen Erschütterungen von 1945 und auf die besondern Prägungen dieser Orte in der Stunde Null Bezug nehmen.
Wenig hat mich als kleines Mädchen so ergriffen, wie das, was mir meine Großmutter vom Krieg und der Zeit danach erzählt hat.
Vor allem: Ihre Angst um ihre Kinder. Von der Kapitulation erzählte sie: In dem kleinen Ort in der Nähe von Dresden, mußte aus jedem Haus ein weißes Tuch hängen. Fehlte dieses Zeichen an einem der Häuser, hätte die Vernichtung des ganzen Dorfes gedroht. Für dieses Projekt bitte ich meine Nachbarn um Unterstützung: in der stillen, 140 Jahre alten Viktoriastraße hängen weiße Laken aus Privathäusern; die Tücher werden bei Einbruch der Dämmerung zur Projektionsfläche für schemenhafte Lichtbilder: die Gesichter von Neugeborenen.
Katalogtext
Mit der Kunst in den öffentlichen Raum zu gehen, könnte als List verstanden werden, als wolle sich der Künstler ein ohnehin vorhandenes Publikum dienstbar machen, dem eigenen Projekt usurpieren. Anders stand es mit der Arbeit „Vor meiner Haustür“ – im faktischen wie übertragenen Sinn:
Wer in der Viktoriastraße wohnt, erlebte an fünf aufeinanderfolgenden Abenden eine aufregende Transformation. Im mittleren Straßenabschnitt waren weiße Tücher über Fensterbänke des Obergeschgosses von 13 Häusern gehängt: eine Geste, die für jüngere Passanten erläutert werden mußte, von den älteren aber wohl verstanden und in der historischen Reminiszenz nicht ohne Vorbehalt aufgenommen wurde. Waren doch vor 50 Jahren, am 10. April 1945, amerikanische Truppen durch die benachbarte Limmerstraße einmaschiert und hatten damit hier wie andernorts die Kapitulation des Deutschen Reiches bewirkt – eine Kapitulation letztlich vor der Zukunftslosigkeit des eigenen militärisch wie moralisch bankrotten, über Jahre dezivilisierten politischen Systems. Dafür standen die „weißen Fahnen“. Für Katja, die selbst 15 Jahre später geboren wurde, waren die Erzählungen der Großmutter „vom Krieg“ und von der Kapitulation, von der Angst um die Familie im Falle der Verweigerung, der subjektive Ausgangspunkt.
Mit dem Einsetzen der Dämmerung verloren die Tücher ihren Objektcharakter und damit ihre symbolische Fixierung. Leicht bewegt im aufkommenden Abendwind, fingen sie die immer deutlicher werdende Projektion von Neugeborenen auf, fungierten als deren Träger. Der noch am Tage schockierte Passant, sah sich jetzt verzaubert, die Straße in einen magischen Bildersaal verwandelt.
Aber der mediale Effekt war nicht Selbstzweck, Magie kann nur vom Gegenstand ausgehen: Hier von den keineswegs babyhaft geschönten Gesichtern, unter ihnen dasjenige der eigenen Tochter Paula, die hier selbst im Haus geboren wurde und am Tage der „Eröffnung“ gerade ihren achten Geburtstag feierte.
Jeder spürte es und korrigierte insoweit vorgefaßte Meinungen: Es ging nicht um eine platt-sentimentale Metapher der Stunde Null. Die Kinder eroberten nicht ihre Straße als lärmende oder belanglos verspielte Wesen, als Ikonen einer umworbenen gesellschaftlichen Zielgruppe. Sie traten hier bildhaft in einen intentional und symbolisch bereits vielfach fixierten Raum hinein in Erscheinung – ungewiß ihrer Zukunft, aber doch schicksalhaft an die eigene, unmittelbar durchlebte Vorgeschichte gebunden: Ihre Epiphanie als Allegorie der Geburt selbst.
Nach fünf Tagen war die alltägliche Situation wieder hergestellt, das ephemere Projekt aber noch in den Köpfen, die optische Projektion als seelische fixiert.
DR. DIETER LANGE, Professor für Kunstgeschichte, FH Hannover, 1995