Aus dem Ausstellungkatalog der
Meisterschülerausstellung der Fachhochschule Hannover
„Meisterhaft“ vom 25. Juni bis 12. Juli 1992, Eisfabrik – Foro Artistico
Hiltrud Köhne über die Arbeit von Katja Baumgarten

Eigentlich habe ich Katja Baumgarten durch das Leben kennengelernt. Ein Foto von ihr an der Wand bei ihrer Großmutter im Altenheim. Die Großmutter erzählte mir damals, daß Katja Hebamme sei. Damals machte ich dort Nachtwachen und lernte eines Abends auch den Großvater kennen, der seine Frau besuchte. Eine eigenwillige Persönlichkeit, die mich angriffslustig in ein Streitgespräch über Kunst verwickelte.

Später lernte ich Katja näher kennen: als Frau, als Hebamme, als Freundin und als Künstlerin. Erster Anlaß waren unsere Gespräche über meine Filme. Doch die intensivsten Momente unserer Begegnung waren meine Hausgeburten mit Katja als Hebamme und unser Austausch in den Tagen nach der Geburt. Durch diese Gespräche ist die Polarität der verborgenen Lebensabschnitte von Geburt und Tod näher zusammengerückt. Eine schöpferische Kraft sieht sie in der sowohl sensiblen wie auch schöpferischen Arbeit der Frauen, Leben weiterzugeben. Ihre Kinder Nikolaus und Paula brachte sie 1985 und 1987 während ihrer Studienzeit zur Welt.

Begonnen hatte Katja Baumgarten ihr Studium der Freien Kunst 1983. Zunächst studierte sie Bildhauerei bei Prof. H. Rogge. Nach seinem Ausscheiden 1989 wechselte sie zur Malerei bei Prof. G. Sellung und Prof. U. Baehr. An meinem Seminar für Experimentalfilm nahm sie seit 1990 teil, Schwerpunkt: „Experimentelle Formen des Dokumentarfilms“. Die Aktion „Der rote Faden“, eine 200m lange Bodenskulptur durch das Rathaus der Stadt Hannover, war Diplomarbeit im Jahr 1991.

Abschlussarbeit des Aufbaustudiums zur Meisterschülerin:
Großvater – wo komm ich her, wo geh ich hin?
Aufzeichnungen nahe der Grenze – ein Videofilm,
VHS, 48 Minuten, 15 Fotos s/w und Texte, präsentiert in zwei Räumen.

Betritt man eine der Austellungshallen der Eisfabrik, befindet sich links eine helle längliche Kammer, die mit einem Stuhl bestückt, zum längeren Lesen und Betrachten der Fotos einlädt. Die Texte geben das gesprochene Wort im Film wieder, der sächsischen Akzent ist zurückgenommen. Vor mir eine Auswahl von Standfotos aus dem Videofilm, abgelöst vom Erzählstrang des Films, doch im Sinne des Themas neu zusammengestellt.

Ein zweiter Raum an der anderen Seite der Halle wirkt wie ein intimes Fernsehzimmer: ein Ohrensessel gegenüber dem Bildschirm, eine Grünpflanze im Fenster zur Halle, das Video – pausenlos. Der Betrachter hat zum Großvater auf dem Monitor einen geringen Abstand, die Größenverhältnisse ihrer Gesichter sind ähnlich, dadurch wird die Ebenbürtigkeit zwischen den beiden unterstützt. Langsam und ruhig geht die Kamera den Bewegungen des Großvaters nach, hält oft an Details inne – ein Ei wird gepellt, eine Plastikfolie über den Makronen mit einem Messer zerstochen. Der Großvater erzählt und ohne Hektik schwenkt die Kamera auf das Gesicht zurück. Die Kameraführung und die Länge dieser Szenen sind für den Film wichtig, um das Gefühl der Langsamkeit des Alters zu erfahren. In den ersten zwei Dritteln des Films kommt der Zuschauer zur Ruhe, bis er einen Moment später in Spannungen verstrickt ist. Die Kamera zeigt das angespannte Gesicht des Großvaters, nur akustisch erfährt der Zuschauer, daß der Großvater Wasser läßt.

Die Tabu überschreitende Darstellung des Alters in dieser Szene wirkt sehr spannungsgeladen. Bis jetzt verläuft der Film wie beschrieben, doch jetzt ist man stärker in das Geschehen integriert. Es fällt schwer, Stellung zu beziehen. Dies ist der Höhepunkt des Films, der durch mehrere Dialoge zwischen Großvater und Katja weiterführt. Die Verständigungsschwierigkeiten der Generationen spürt man wiederholt in latenten Reibungen.

Die Ambivalenz des Betrachters, zwischen Großvater und Enkelin, macht es schwer, das Thema des Films zu vergessen. Jedoch durch die Komik der Situationen, die der Großvater mit seinem Humor verstärkt, kommt es im letzten Drittel des Films oft zu einem befreienden Lachen.

Katja hat es geschafft, über einen Zeitraum von 48 Minuten einen Spannungsbogen aufzubauen, bei dem es dem Zuschauer nie langweilig wird. Das ist eine großartige Leistung, denn die meisten Zuschauer sind überflutet von den schnellen Formulierungen des Fernsehens, das unsere Sehgewohnheiten prägt, durch schnelle Schnitte, viel Sprache und zusätzlichen Kommentar. Auf all diese üblichen Stilmittel verzichtet Katja bewußt und hat in dieser Arbeit bewiesen, daß man auch ohne „handelsübliche Norm“ eine Dokumentarfilmform entwickeln kann, die im Fernsehen fast ausgestorben ist und nur noch auf wenigen Dokumentarfilmfestivals ihre Nieschen hat.

Katja Baumgartens Film vom Großvater, aber auch die Aktion „Der rote Faden“ haben viel mit ihrem Beruf und ihrem Thema der Geburt zu tun. Die Nähe zum Leben, die den Tod selbstverständlich mitbeinhaltet, versteht sie mit dem Medium Film eindrucksvoll umzusetzen.

HILTRUD KÖHNE – Filmemacherin, Dozentin FH Hannover, 1992